Die Stadt beißt
PROLOG
Tramson streifte durch das Viertel, das ihn zum King gemacht hatte. Auf dem Place de Torcy erblickte er Melissa, eine kleine Black von achtzehn Jahren, in Begleitung einer Freundin.
«Na, Melissa, immer noch im Squat?»
«Hallo, Tram. Kennst du Sara?»
«Nein, ich komm nur noch selten her. Bist du aus Mali?», erkundigte er sich und starrte Sara in die Augen.
«Aus dem Kongo, aber, du weißt ja, wir Schwarze sehen alle gleich aus!»
«Haha, sehr witzig! Du bist ja ganz schön in Fahrt, sag mal... Habt ihr Probleme mit Omar, dem König des Dschungels?»
Sie wandte den Blick ab, ihr Gesicht erstarrte zur Maske. Neben ihr signalisierte Melissa Tramson, behutsam vorzugehen.
«Wir ziehen uns an der Metro ’nen McDo’ rein, ich lad euch ein, Mädels.»
Jaques Tramson, zweiundvierzig Jahre, zehn davon als Streetworker, hatte lange mit der Kriminalität geflirtet. Seine letzte Beschäftigung beim DDASS, der Departementsdirektion für Gesundheit und Soziales, bestand darin, den Fixern im Oberkampf-Viertel zu helfen. Der straff organisierte Job sagte ihm nicht wirklich zu, aber das Schlimmste für ihn war, als er die Tendenz der Oberkampf-Truppe entdeckte.
Jeden Samstagmorgen trafen sich die Streetworker um zehn Uhr in einem ehemaligen Lebensmittelladen in der Rue de Nemours, um ihre Erfahrungen auszutauschen, sich in den schwierigen Fällen sogar gegenseitig zu unterstützen. Der Boss Franquin und sein Lakai Pedro führten einen Versammlungsablauf ein, der an eine Sekte erinnerte. Fünf nach zehn versammelten sich die Streetworker und stellten sich mitten im Raum im Kreis auf, und jeder musste sein «Glück der Woche» herbeten. Am ersten Samstag traute Tramson seinen Ohren nicht, als er den unterwürfigen Schwachsinn vernahm, den jeder Streetworker erfand oder ausschmückte, um Franquin gefällig zu sein. Als er an der Reihe war, verkündete er:
«Ich hab einen Joint geraucht, das war klasse.»
«Tramson, bitte, das ist kein Spaß.»
«Ich hab keine Ahnung, wir leben in einer Scheißwelt.»
«Überleg dir bis nächsten Samstag was.»
Der Nächste rechts von ihm erklärte, dass er die Bekanntschaft eines Klebstoffschnüfflers gemacht hatte, und dass sie einen Moment reinen Glücks geteilt hatten, als sie am frühen Morgen einen Kaffee getrunken hatten.
Dann gab jeder seinen Senf dazu.
Am nächsten Samstag ergriff Tramson gereizt, aber auch ganz schön matt und abgeschlagen von seiner Arbeitswoche, als Dritter das Wort.
«Diese Woche habe ich gut nachgedacht, und mein Glück war, als ich mir einen runtergeholt habe, während ich aus dem Augenwinkel nach den beiden Nutten an der Metrostation Saint-Maur geschielt habe. Das war mein Glück der Woche.»
Pedro ging mit erhobener Hand einen Schritt auf ihn zu. Tramson ergriff die Flosse des Streetworkers und verdrehte ihm drei Finger, es knackte spröde.
Der Streit war derart ausgeartet, dass er mit Tramsons Entlassung endete. Seitdem fristete er ein kümmerliches Dasein ganz in der Nähe der Brasserie «Wepler», besuchte regelmäßig die Suppenküche der Saint-Eustache oder Chartier und arbeitete als Freizeitpädagoge bei der Gesell¬schaft «Soledad» im Viertel Montorgueil.
Seine Tochter, neunzehn Jahre alt, verbrachte im August regelmäßig einen Monat mit ihm. Sie nutzten die Gelegenheit, um ins Blaue zu wandern, ein Zelt für zwei auf dem Buckel und fest entschlossen, der zivilisierten Welt den Rücken zu kehren.
EINS
Zweiundzwanzig Uhr dreißig. Roissy-Charles-de-Gaulle.
Sara Tchisekedi begibt sich in Halle 1, ihr Bündel über die Schulter gehängt, einen Zeichenblock in der linken Hand.
Frankreich, Einwanderungsland. Sie lächelt kurz und wirft der anderen Kongolesin, die wie sie zwölftausend Euro für ein Flugticket und gefälschte Papiere hingeblättert hat, einen Blick zu. Als sie den Zoll passiert haben, wechseln sie einen erleichterten Blick. Sara schnuppert. Ein Duft nach Merguez-Bratwurst zieht durch die sterile Halle, wie um kundzutun, dass die menschliche Rasse noch fortbesteht.
Zwei Blackos, total auf Marleys Natural Mystic abgefahren, verschlingen triefende Wurstsandwiches auf dem nackten Boden. Verloren hocken sie in dem heillosen Menschengewühl um sie herum zwischen ihren Tragetaschen. Der Ältere – mit silberweißen Dreadlocks – bemerkt Sara aus dem Augenwinkel.
«Wovon willst du hier leben, Schwester?»
«Außer meinem Arsch fällt mir da nichts ein.»
«In sechs Monaten wird dir das Lachen vergangen sein.»
Scheiße, tadelt sich Sara, warum hab ich das nur gesagt?
Sie wirft einen gleichgültigen Blick auf die Vuitton-Taschen und die Gucci-Gürtel um sie herum. Die elektronischen Türen gleiten vor ihr auf. Ein eisiger Wind zieht durch ihren dünnen Pulli. Ein Wind, der von weit herkommt, aus Schonen in Südschweden. Ein Wind, der die afrikanische Schar mit sich trägt, welche an die Pforten des Paradieses klopft. Derselbe Wind, der die Tunika ihrer Landsmännin Zina hebt.
Sara hat ihren Look banaler gestaltet: Jeans, Reeboks und grauer Rundhalspulli. In Sachen Kohle soll sie sich an Omar halten, den Pariser Kontakt der illegalen Immigrationskette. Aus halbgeschlossenen Augen mustert sie abschätzig einen selbstgefällig wirkenden Black mit dürftigem Schnurrbart und graugrünem Mantel, der sich zu ihr gesellt, flankiert von einer afrikanischen Matrone mit schmalen Lippen.
«Ich bin’s, Omar.»
Sie nickt. Er bestimmt das Spiel. Sara macht sich keine Illusionen, aber sie wollte dieses Exil in Paris. Für sich, für ihre Malerei, um mit dem Ort in Berührung zu kommen, wo es richtig abgeht. Sie ahnt dunkel, dass dieser Hühnerhof-Aufreißer sie nicht bitten wird, ihre Fähigkeiten in Kreuzstickerei unter Beweis zu stellen. Das ist ihr scheißegal; jetzt ist sie nur noch fünfzig Kilometer von Paris entfernt. Dem Zentrum der Welt, nicht mehr und nicht weniger.
Zehn Meter weiter kassieren drei vorpubertäre Flics einen Araber vor den Augen seiner Frau ein.
«Bleiben wir nicht hier», befiehlt Omar.
Also gehen sie alle vier zu einem blauen Opel Vectra, der im hintersten Winkel eines unterirdischen Parkhauses steht; die beiden jungen Frauen setzen sich schweigend nach hinten.
Nach fünf Kilometern, eingelullt von Radio Nostalgie, das eine Sondersendung über Joe Dassin bringt, macht Sara den Mund auf.
«Wohin fahren wir?»
«Nach Barbès.»
So gelangt Sara am 15. September gegen Mitternacht in den Neondschungel.
«Barbès», spricht sie sich selbst vor. «Genial!»
ZWEI
Drei Monate später.
Barbès. Sechs Uhr morgens.
Sara richtet sich in ihrem Bett auf, verscheucht ihren Traum.
Gangster unter Hypnose
Die Straße gehört nicht mir
Bloody Sunday
Ein Flash über den großen Seen
Der Schrei des Lebens.
Sie schüttelt die Müdigkeit von sich ab. Im Nebenzimmer schnarcht Zina und brabbelt unverständliches Zeug. Dann denkt sie: Omar, das Squat, fucking Aids.
Sie öffnet ihr Fenster, das an der Kreuzung Stephenson hinter der Kirche Saint-Bernard liegt. Aus dem Augenwinkel erhascht ihr Blick die Vorortzüge, die vorüberrumpeln und den Gare du Nord hinter sich lassen. «Recht so, ihr Angestellten, beeilt euch, eurem Chef eure Arbeitskraft zu verkaufen.»
Darüber muss Sara lachen. Sie, die in einem Squat in der Rue de l’Évangile nach den Plänen Omars ihren Arsch verkauft. No more excuses. Sie hat die zwölftausend Euro fast zurückgezahlt.
Aber ein brutaler Glanz im Blick des Zuhälters lässt durchscheinen, dass es sich um eine lebenslange Schuld handelt. Die dicke Frau, die sein Leben teilt, hat keine Schulden. Alle nennen sie «Brigitte», ihr Familienname ist unaussprechlich und unmöglich zu behalten. Sie stammt aus Südkivu, kam aber aus Kongo-Kinschasa, belastet mit einer undurchsichtigen Vergangenheit in den Reihen der Hutus, als diese den Landstrich säuberten, indem sie die Tutsis mit der Machete massakrierten.
Unter Saras Fenster hat Cooper, der jüngste Crack-Modou im Viertel, mit seiner Dealerei begonnen, er sahnt bei drei menschlichen Wracks ab, die mit zehn Steinen Crack am Tag einigermaßen funktionieren. Manchmal fällt sein aufmerksamer Blick auf die junge Frau, die sich aus ihrem Fenster lehnt.
«Willst du auch was davon, Süße, willst du?»
«Soweit bin ich noch nicht, mein Junge.»
«Das ist ein Fehler, du solltest was nehmen.»
Hinter ihr raunt Zina verschlafen:
«Sara, besorg mir zehn Crack-Kuchen, ich bin unter der Dusche.»
Seufzend schnappt die Black sich zwei Scheine und lehnt sich wieder hinaus, dem spöttischen Dealer direkt vor die Nase. Er nennt sich Cooper, nach Alice Cooper, kann dem aber bei weitem nicht das Wasser reichen.
«Hast du deine Meinung geändert?»
«Zehn, für Zina.»
«Okay. Du bläst mir gratis einen, und ich erlass dir zwei Steine.»
«Ich lutsch in meiner Freizeit keine Pimmel. Schieb den Stoff rüber.»
Scherzhaft, aber nicht zu sehr.
Das Squat liegt auf halbem Weg zwischen dem Place de Torcy und dem Schwimmbad Hébert. Da die Stadt Paris das Vorkaufsrecht hat, ist es zum Abriss vorgesehen, und Türen und Fenster sind zugemauert.
Omar und Brigitte schätzen die Diskretion.
Die Mädchen kommen aus dem Kongo und aus Ghana. Zwanzig üppige Blacks ohne Papiere, mit Angst im Bauch und Schulden bis zum Hals.
Fest in ihren Lammfell-Parka gehüllt, gehen Sara und Zina nach hinten, wo um die zwanzig potentielle Kunden geduldig warten: Crack-Ab¬hängige, Sexbesessene und stadtbekannte Säufer. Letzte Woche haben sie um Heizung gefleht, aber Omar hat ihnen nahegelegt, ihren Arsch ein wenig schneller zu bewegen, damit das Quecksilber steigt.
Sara geht in ihre Nische in der ersten Etage. Ein ärmliches Bett, durch eine schäbige Plane von den anderen getrennt. Ihr gegenüber eine mit kaltem Wasser gefüllte Schüssel. Die Bezahlung – zwanzig Euro – erfolgt im Voraus, aber Sara bessert ihr «Trinkgeld» durch besondere Leistungen auf, die vom Haus nicht vorgesehen sind. Alle Mädchen tun das, das Problem ist nur, die Kohle unter dem Blick der unerbittlichen Brigitte, die die Kasse führt, aus dem Squat zu schaffen.
Die Kongolesin pinnt eine schlechte Reproduktion eines düsteren Bacon an die Wand. Um sich an die Jahre zu erinnern, in denen sie in Brazzaville bei Omoké Skizzen angefertigt hat. Akte, Blumenkompositionen, dann die Begeisterung für die impressionistischen Gemälde und der starke Einfluss der großen Exaltierten: Basquiat, Warhol, Pollock. Zwischen zwei Nummern nimmt sie ihren Skizzenblock und schlüpft mit gespitztem Bleistift zur Plane, um den prachtvollen Arsch von Zina festzuhalten, die sich ebenfalls die Lunge aus dem Hals stöhnt, um in diesem Hafen der Schönheit, der Ruhe und der Ungerechtigkeit zu überleben.
Der Kerl betrachtet sie aus zwei Metern Entfernung, ein Mischling mit spanischem Akzent.
«Du bumst, und sonst nichts?»
«Ich kann noch mehr.»
Sie blickt mit ihren grünen Augen tief in die ausweichenden Augen des schlecht gebleichten Kunden, der in einen grauen Trainingsanzug mit roten Ärmelaufschlägen gezwängt ist. Dann entschließt sie sich:
«Ich kann dich vollpinkeln, die Entscheidung liegt bei dir.»
«Ist gebongt.»
Fünfzehn Minuten später gesellt sie sich zu drei Mädchen in der ehemaligen Küche im Erdgeschoss, wo Brigitte ihnen für fünf Euro, die von den offiziellen Einnahmen aus der Prostitution einbehalten werden, einen abscheulichen Fraß vorsetzt. Zwei von ihnen stecken sich eine Crackpfeife an. Nach einer Weile streckt Sara die Hand aus und führt die Pfeife an ihre Lippen. Die üble Mischung aus Heroin und Bikarbonat bahnt sich einen Weg in ihr Gehirn und sie denkt: «Fuck, würde es doch nie aufhören.» Dann lehnt sie sich zurück und lässt den Fraß stehen, während ein anonymer Finger auf einem Kofferradio ein Stück von Al Green anknipst.
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