Exodus aus Libyen

Topin, Tito

 

Die totale Anarchie 

Goodbye Gaddafi: Der aus Marokko stammende französische Autor Tito Topin schickt in «Exodus aus Libyen» eine ziemlich bunte Reisegesellschaft in die Wüste - und lässt das Roadmovie in einem rasanten Showdown enden.
Was man von guten Krimis lernen kann: Erzählökonomie. Ein paar Striche, nicht zu dick und nicht zu dünn, und schon hat der Leser ein Bild vor Augen, einen Geruch in der Nase: «Ein Schwarm fliegender Schaben schwirrt aus einem Gully hervor und verdunkelt die angrenzende Straße mit einem sich bewegenden Schatten, unter dem Taxis, qualmende Lastwagen, knatternde Motorroller, Pferde- und Eselskarren, Fußgänger, brechend volle Kleinbusse und schwer beladene Autos sich vermengen und kreuz und quer fortbewegen: die totale Anarchie.»
Zoom auf eines der Autos, einen Toyota Land-Cruiser. Er wühlt sich durch den Verkehr, sammelt noch ein paar Mitfahrer ein, und bald sind sie komplett, sechs Männer und zwei Frauen, die alle so schnell wie möglich aus Tripolis raus und nach Tunesien wollen, in Sicherheit, denn hier, in Libyen, liefert sich Gaddafis Armee die letzte Schlacht mit den Rebellen. Obwohl, so ganz ist nicht abzusehen, wie lange der Krieg noch dauern wird. Und von den acht hat jeder einen guten Grund, sich davonzumachen. Der eine ist französischer Jagdflieger, den sein Schleudersitz gerettet hat, der Fahrer des Wagens eigentlich Lehrer und Sympathisant der Rebellen. Ein Bankräuber sitzt da auf einer der beiden Rückbänke, ein falscher Archäologe, ein betrunkener Arzt (nur betrunkene sagen die Wahrheit), eine Schauspielerin und eine schwangere Krankenschwester, die bald ihr Kind erwartet. Und dann ist da noch Ousmane, ein junger Mann aus dem Tschad, der vor nicht langer Zeit noch hoffte, im vermeintlich sicheren Libyen Geld zu verdienen, um sich daheim eine Schafherde kaufen zu können.
Die unterschiedlichsten Welten treffen in «Exodus aus Libyen» zusammen, und man kann nicht behaupten, dass diese Begegnung besonders harmonisch verläuft. Es ist eine Notgemeinschaft, die da gen Westen braust, vorbei an den Spuren des Kriegs: «Eine dicke schwarze Rauchsäule quillt aus dem Kommandoturm und den Luken eines Panzers hervor. Sie rollt sich um sich selbst und schwillt an, davongetragen von einem Wind, der aus der Wüste kommt. Ab und zu blitzt eine Flamme auf, erstickt jedoch schnell. Die Ketten liegen zerbrochen am Boden. Daneben verbrennen zwei verkohlte Körper vollends.»

Tito Topin wurde 1932 in Casablanca geboren, emigrierte Mitte der Fünfzigerjahre nach Brasilien, zog später nach Frankreich, veröffentlichte Kriminalromane, Comics, Kinderbücher und schrieb fürs Fernsehen. Von Aufenthalten in Libyen ist in seiner Biografie nicht die Rede, aber er scheint sich auszukennen in diesem Land, weiß, dass es hier Mufflons gibt und die seltene Damagazelle. Gaddafi, heißt es einmal, habe in den 42 Jahren seiner Herrschaft nur einen einzigen Krieg geführt, und diesen verloren: einen Krieg mit Tschad. In Tschad wiederum gibt es 120 verschiedene Sprachen, und als Ousmane einmal versucht mit Soldaten aus seinem Heimatland zu sprechen (fast alle Soldaten Gaddafis sind Söldner), wird er nicht verstanden: «Wenn er sie auf Ngambai anspricht, antworten sie auf Musgum, und wenn er sich trotz seiner geringen Praxis bemüht, Massa zu sprechen, antworten sie auf Bideyat.»
Verständigung ist aber nicht das Hauptproblem. Das Problem ist der Reifen des Land-Cruisers, der beständig Luft verliert. So muss die bunte Reisegesellschaft in Ar-Rahibat auf der Straße nach Nalut [...] Station machen. Ar-Rahibat wurde gerade von der regulären Armee zurückerobert und im einzigen leidlich intakten Gebäude, dem Hotel de l'Amitié, residiert der Kommandant. Und der will die Gruppe nicht weiterfahren lassen, bis die Schauspielerin nicht freiwillig zu ihm ins Zimmer kommt.
So entwickelt sich aus dem, was wie ein Roadmovie begonnen hat, ein konzentriertes kleines Kammerpiel. Mit einem klassischen Krimi hat das Ganze freilich wenig zu tun, auch wenn wie nebenbei mal ein Toter die Treppe runterpurzelt und so manches Grab noch ausgehoben werden muss, bevor es zum rasanten Showdown kommt.
In Frankreich ist «Exodus aus Libyen» bereits 2013 erschienen, keine zwei Jahre nach dem Tod Gaddafis. Da war sein Autor bereits 81 Jahre alt. Und wenn ein Alterswerk so aussieht, wie Alterswerke immer von solcher Lässigkeit, Leichtigkeit und zugleich von vergleichbarer Stringenz wären, würden wir nichts anderes mehr lesen wollen.

Tobias Lehmkuhl, Süddeutsche.de

 

Ich, der Flüchtling - Brutal beeindruckend: Tito Topins «Exodus aus Libyen»

Libyen, dafü muss kein Nordafrika-Experte konsultiert werden, ist ein sogenannter «failed state». Das Auswärtige Amt warnt vor Reisen und formuliert dieplomatisch: "Die staatlichen Sicherheitsorgane können grundsätzlich keinen ausreichenden Schutz garantieren oder Holfe leisten. Regierungstreue, aber auch unabhängige Brigaden beanspruchen, Teile der öffentlichen Ordnung zu sichern, sind jedoch nicht ausgebildet und wenig berechenbar.»
Das heißt, weniger gewunden, dass nach Gaddafis Tod 2011 der Bürgerkrieg nicht aufgehört hat, dass es zwei Regierungen gibt, dass Clans und Milizen miteinander rivalisieren, dass sich vor allem der IS auch hier eine breite Basis verschafft hat - es herrscht Chaos im Land.
Kommt da, könnte man fragen, ein Roman, der im Jahr 2011 spielt, 2013 in Frankreich erschien und jetzt auf Deutsch herauskommt, nicht etwas zu spät? Ist nicht seine Sicht der Dinge überholt, notwendig harmloser, als die Realität von heute es erlaubt? Wer nur ein paar Seiten von Tito Topins «Exodus aus Libyen» gelesen hat, wird das tendenziell verneinen, wer den Roman beendet hat, dürfte sich sicher sein und allenfalls bezweifeln, dass für dieses Buch der Zusatz "Série noire" ideal ist. Denn was die acht Menschen, die versuchen, durch die Wüste ins benachbarte Tunesien zu fliehen, durchmachen, ist weniger eine Kriminalstory als eine Geschichte von Flucht und Überleben.
Der dreundachtzigjährige Topin, der in Marokko geboren wurde und in Frankreich lebt, ist nicht nur Schriftsteller, er hat auch als Illustrator und Drehbuchautor gearbeitet, und sein gutes Auge für visuell starke Szenen, für Verdichtung und knappe Sätze spürt man von der ersten Seite an, wenn er mit ein paar Reißschwenks das Straßenleben in Tripolis einfängt. «Im Rinnstein trocknet eine Blutlache vollends aus, der Körper ist verschwunden, übrig ist nur ein Schuh mit Löchern in der Sohle. Ein Schwarm fliegender Schaben schwirrt aus einem Gully hervor und verdunkelt die angrenzende Straße mit einem sich bewegenden Schatten."
In diesem Tempo geht es weiter, auf der Flucht ist schnelles Handeln Überlebensprinzip - nichts wie raus aus Tripolis. Topin verliert deshalb auch keine Zeit damit, sein Personal, das in einem gestohlenen Land Cruiser unterwegs ist, umständlich in kleinen Portionen und Dialogen einzuführen. Wie in einem Film, bei dem die Protagonisten auf einmal direkt in die Kamera sprechen, lässt er nacheinander jeden der acht in der ersten Person Singular in einem Kapitel sich kurz vorstellen: den Fahrer, einen Arabischlehrer und Gaddafi-Gegner, den abgestürzten französischen Luftwaffenpiloten, den zynischen kanadischen Arzt, den französischen Archäologen, den ägyptischen Gauner, den Arbeiter aus dem Tschad, die Schauspielerin mit dem dunklen Geheimnis, die schwangere Frau.
Sie entkommen den Straßensperren, den Kugeln, aber sie kommen nicht allzu weit. Ein platter Reifen lässt sie stranden in einem Kaff, das die Rebellen erobert und Gaddafis Truppen zurückerobert haben. Die differierenden Interessen und die Konflikte mit den Militärs liefern den bewährten dramatischen Brandbeschleuniger: Sie geraten aneinander, wegen Geld, Proviant, der besten Fluchtstrategie. Topin legt das Ganze fast so hart und heftig an wie Tarantino in seinem neuen Film «The Hateful 8» - mit allmählicher Reduzierung des Personals ist daher zu rechnen. Nur spielerisch geht es hier keine Sekunde lang zu, in einem Bürgerkriegsland, in dem die Zahl der Leichen ohnehin sehr hoch ist. Was da von den Plänen, Wünschen, Träumen der Einzelnen übrig bleibt, ist nicht viel.
«Meine Bücher» schreibt Topin auf seiner Webseite, «sind das Ergebnis schlechter Lektüren, langer, alkoholisierter Gespräche und großer Schmerzen.» So viel Koketterie kann auch sich einer jenseits der achtzig leisten. Nach seinem so brutalen wie beeindruckenden Roman erst recht. Und man würde nach diesem libyschen Exodus auch gerne noch weitere Bücher dieses nicht gerade reichlich übersetzten Autors kennenlernen.

Peter Körte, FAZ


Krieg kennt keine Sieger

Alle reden vom Krieg. Wir auch. Nun ist zwar Krieg für gewöhnlich ein ziemliches Blutvergießen, hat aber an dieser Stelle eigentlich nichts zu suchen. Wir wollen ja die Debatte um den Unterschied von Töten im Krieg und Töten in friedlichen Zeiten nicht weiterführen. Wir sind ja nicht verrückt. Aber man kann ja mal darauf hinweisen, dass es in Kriminalromanen hin und wieder nützliche Wahrheiten gibt. Dass Kriminalromane manchmal merkwürdig passgenau in aktuelle Lagen erscheinen. Wie «Exodus aus Libyen» des französischen Zeichners, Schriftstellers und Journalisten Tito Topin.
Da steht irgendwann an einem verlorenen Posten mitten in der libyschen Wüste, gut 100 Kilometer von der rettenden Grenze zu Tunesien, eine relativ unwahrscheinliche Gruppe von Leuten zusammen. Wir schreiben das Jahr 2011 und der Bürgerkrieg gegen Gaddafi ist in vollem Gange. Französische Bomber fliegen Angriff auf Angriff. Da erhebt einer das Glas. «Sie wissen sehr wohl», sagt er, er heißt Hajj Ahmed und ist der sehr feinfühlige, sehr gebildete, geheimnisvolle, gefährliche Sandhurst-Zögling, der dem Posten in der Wüste vorsteht, «dass Kriege schon lang nicht mehr gewonnen werden.» Korea, Afghanistan, Irak, Israel, Palästina, Hutus-Tutsis – die Liste ist lang. Ob sie mit Syrien enden wird, kann man bezweifeln. Er stößt lieber auf die Liebe an, «bei der gibt es auch nur Verlierer, aber wenigstens entspricht das den Spielregeln».
Von einem gewissen Grad von Bitternis zu sprechen, wäre der Euphemismus der Woche. Kommen wir zur unwahrscheinlichen Gruppe, deren Geschichten diesen unwahrscheinlichen, unheimlichen Kriminalroman ausmachen, der natürlich gar keiner ist. Ein halbes Dutzend Leute, auf der Flucht in einem Land Cruiser. Ein Bankräuber, eine Frau, die dem Diktator, der in «Exodus in Libyen» bloß «Pourriture» (Sauhund) genannt wird, beiwohnte und ihn halb erstach, ein kanadischer Arzt, der ihn zusammenflickte, ein Pilot, der seinen Freund in den Tod flog, eine Schwangere, ein Flüchtling aus dem Tschad, ein Archäologe. Irgendwie haben sich ihre Leben berührt, jetzt sitzen sie gemeinsam im Nest fest. Die Rebellen kommen. Der Land Cruiser ist kaputt.
Topin, der 1932 in Casablanca als Sohn eines Polizisten zur Welt kam, lange in Brasilien lebte und (nicht sehr) bekannt wurde durch die Serie um Commissaire Bentchimoun, lässt sie selbst ihre kleinen Vorgeschichten erzählen. Als Einsprengsel in die existenzielle, zunehmend ins Irreale kippende Geschichte ihrer Fluchtbewegungen.
Der Ton ist hart. Über allem leuchten die Sterne, denen das alles egal ist. Das All ist kalt, Gott macht Pause. Das Licht ist schön, gibt den Schatten den Farbton von Lavendel. So etwas bekommt man nur in Jahrzehnten Unterricht und Erfahrung in franzöischem Polar, der frankophonen Spätausprägung des Hardboiled, hin. Wenn man seinen Camus gelesen hat und Nordafrika kennt und die Nachrichtenlagen und die Geschichten.
Ein gelber Hund geht um. So einen kennt man von Maigret. Da war sein Auftauchen auch schon kein gutes Zeichen. Hier verleitet er den irren Arzt zu einem Ausflug in die politische Philosophie: «Es ist einfacher, einen Hund zu verjagen als einen Diktator. Ein Stein reicht, damit er den Schwanz einklemmt und abhaut. Für einen Diktator braucht man die Zustimmung aller Nationen, man muss quatschen, warten, bis es Tausende von Toten gibt. Woraus folgt, dass es besser ist, von einem Hund regiert zu werden. Man wird hin leichter los, wenn er anfängt, sich für Gott in Person zu halten.»
Und dann kommt der Tod. Zu sagen, dieser Roman würde wie der Krieg keinen Sieger kennen, wäre aber gelogen. Ein bisschen was bleibt am Ende, Tito Topin ist da ein bisschen altersmilde, auf das sich anzustoßen lohnt. Ist vielleicht gelogen. Aber schön. Am Ende von soviel funkelnder Aussichtslosigkeit.

Elmar Krekeler, DIE WELT

  

Der Krieg und die Liebe. Schlachtfelder des Lebens. Vielleicht muss man Franzose sein, um so darüber schreiben zu können: „Sie wissen sehr wohl, dass Kriege schon lange nicht mehr gewonnen werden. Niemand ist als Gewinner aus dem Zweiten Weltkrieg hervorgegangen. Wer hat den Koreakrieg gewonnen? Der Norden, der Süden? Afghanistan, Irak, Israel-Palästina, die Hututs gegen die Tutsis, die Liste dieser aufreibenden Kriege, die letztendlich immer ohne Siege oder Besiegte enden, ist lang. Wenn Sie nichts dagegen haben, würde ich lieber auf die Liebe anstoßen, dabei gibt es nur Verlierer, aber wenigstens entspricht das den Spielregeln.“
Der so spricht ist kein Pazifist, sondern Hajj Ahmet, Kommandant der libysischen Armee. Wir befinden uns mitten im libyschen Bürgerkrieg, 2011, in einem zerstörten Wüstennest, etwa 100 Kilometer von der tunesischen Grenze entfernt. Die versucht eine Gruppe von sechs Männern und zwei Frauen zu erreichen, in einem gestohlenen Land Cruiser, mit wenig mehr als Erinnerungen und ein bisschen Hoffnung im Gepäck.
Die seltsam zusammengewürfelte Truppe (hier muss der Leser ein wenig Toleranz gegenüber UNwahrscheinlichkeiten aufbringen) – darunter ein kanadischer Arzt, ein französischer Fälscher, ein libyscher Lehrer und eine Ex-Geliebte Gaddafis – hat eigentlich keine Chance. Der Wagen geht kaputt, untereinander ist man zerstritten und dann ist da eben noch Hajj Ahmet, der die Gruppe an der Weiterfahrt hindert. Als der erste von ihnen von den Soldaten ermordet wird, scheint es als einzigen Ausweg nur noch den Tod zu geben…
Ein seltsamer, ein aufregender Hybrid ist dem Franzosen Tito Topin, dessen frühere Romane in Deutschland nicht übersetzt oder längst out of print sind, mit „Exodus aus Libyen“ gelungen: Halb Actionreißer, halb existenzialistisches Drama, hoch spannend, politisch und voller kluger Gedanken über den Krieg und was er mit den Menschen anstellt.

www.krimi-welt.de

 

 

 



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