Frauenmorde in Ciudad Juárez an der Grenze zu den USA machen Schlagzeilen. Frauen werden gefoltert, vergewaltigt und in der Wüste Tieren zum Fraß vorgeworfen. Sie arbeiteten fast alle in «Maquiladoras».
In Mexiko-City wird die Tante des Abgeordneten Organza, ermordet aufgefunden. Höchste Diskretion ist angesagt. Also wird Carlos Hernàndez, der Mann für besondere Fälle, mit der Aufklärung beauftragt. Carlos stößt bald auf einen Zusammenhang zwischen einer «Maquiladora» und dem Abgeordneten Organza. Und auf Drogengeld. Viel Geld und viele Tote...
(Ihre Bestellung wird ausgeführt durch die Germinal Medienhandlung GmbH.)
Hurensöhne
Was am ehesten nach Arbeit aussieht auf dem Schreibtisch des Kommandanten, ist eine Keramikfigur, die eine unter einem Blumenkorb gebeugte Bäuerin darstellt. Uns einander gegenübersitzend, er in seinem mächtigen Chefsessel, ich auf einem Holzstuhl, der für die Gesprächspartner des obersten Befehlshabers der Operativen Beziehungen bestimmt ist, begannen wir den Arbeitstag.
«Wir haben Arbeit, Hernández», sagte der Kommandant. «Es gibt eine Tote.»
«Kein Interesse, Chef. Ich mag sie lebend, mit Karamelgeschmack und Kreditkarte.»
«Laß deine Witze!» Der Kommandant duzte mich wieder, was in der mexikanischen Bürokratie, in der die Realität durch Symbolik ersetzt wird, als die Geste eines gutmütigen Vaters interpretiert werden muß, der dem verlorenen Sohn, der ihm an einem unseligen Tag eine Pistole an den Kopf gesetzt hatte, zwar vergeben, den Vorfall aber nicht vergessen hat. An zweiter Stelle bedeutet es, daß ich tief in seiner Schuld stehe, seiner Großzügigkeit gegenüber nichts anderes als Dankbarkeit empfinden darf, ihm zu gehorchen und ihn zu ehren habe...
Da die Abteilung Operative Beziehungen die Tochter der unerträglichen Leichtigkeit der Schuld in der politischen Familie Mexikos ist, dachte ich an eine aufgeschlitzte Marta Sahagún, an die verspritzte Gehirnmasse von Elba Esther Gordillo, wobei ich voraussetzte, daß sie welche hat, an Rosario Robles und an zwei robuste Parlamentarierinnen. Da ich mich nicht vor einem Typen bloßstellen wollte, der über alle meine Fehler Buch führt, antwortete ich:
«Schießen Sie los, Chef.»
In der Tür, die den Rest des Planeten mit seinem Zentrum verbindet, erschienen Maribel und Laura, unsere beiden Büroengel. Ich dachte daran, wie wenig gerecht es doch in dieser Welt zugeht, und daß es sich niemals um Laura oder Maribel handelt, wenn wir eine Tote haben. Die beiden Weibsbilder bedachten mich mit einem spöttischen Lächeln, und ich seufzte.
Der Abgeordnete Organza wollte mit dem Chef am Telefon sprechen, und sie kamen zu zweit, um dies mitzuteilen. Maribel war so stark geschminkt, als wollte sie in den nächsten Minuten gegen die Sioux und das Sechste Gebot ins Feld ziehen. Laura hatte fast ein halbes Kilo zugenommen, wodurch ihre Beine beinahe so aussahen, als wären sie von einer Frau.
Hernández ist wie ein Hirte. Und die Herde mag zwar zu wünschen übrig lassen, aber irgendeiner muß sie schließlich hüten.
«Stell ihn durch», sagte der Kommandant, und die Mädels gingen wieder.
Die modulierte Stimme eines zeremoniösen Kommandanten bemühte sich, dem mutmaßlichen Organza zu versichern, daß die Ermittlungen bereits aufgenommen worden seien. Sein bester Mann sei mit dem Fall befaßt, und bald gebe es positive Neuigkeiten.
Hinter dem Fenster ging einer dieser Wolkenbrüche nieder, die den Abfall von den Wäscheleinen wegspülen, ertrunkene Ratten vor die Schwelle der Paläste schwem-men, die Armensiedlungen der Stadt mit Schlamm und Morast überziehen und bei Hernández Gedanken an sehr anregende thermische Kombinationen wachrufen: ein warmes Bett, ein fast gefrorenes Bier und eine heiße Frau in Reichweite.
«Schreiben Sie mit, Hernández», sagte der Kommandant.
Ich kramte meinen Bic und einen Abholschein vom Waschsalon hervor und notierte die vom Kommandanten vorgelesenen Daten.
Eduviges Buenrostro, fünfundsiebzig, Calle Mérida 84, Erdgeschoß, Colonia Roma, Körper in den Morgenstunden von ihrer Nichte Mercedes gefunden, Totschlag, Tante des Abgeordneten Organza, höchste Diskretion, keine Presse und kein unnötiges Geschwätz.
«Verstanden, Hernández?»
Ich hatte verstanden. Es ist immer so: höchste Diskretion usw.
Nach einem zehnminütigen liebenswürdigen Gespräch über den Zusammenhang zwischen dem Klima und zweihundert Pesos für ein Taxi – «Du bist doch verrückt, Hernández!» «Mit zwanzig Pesos kaufst du dir einen Regenschirm am U-Bahn-Eingang.» «Außerdem, was willst du mit einem Regenschirm, wo du doch ein Auto hast?» «Maigret hat sich nie über Regen beklagt und Sherlock Holmes hat auch nicht über Nebel gejammert.» «Bist du ein OB oder eine Schwuchtel ohne Schlüpfer.» – Nachdem mir also die väterlichen Widerlegungen des Kommandanten zuteil geworden waren, verließ ich sein Amtszimmer.
Als ich das Büro durchquerte, sah ich Silberpfeil – den schnellsten Zahn unter den Officeboys der mexikanischen Dienststellen –, der eifrig mit einer Maisflade im Familienformat beschäftigt war. Der Rest erinnerte mich an die Sonorawüste. Laura und Maribel hoben den Blick von den Zeitschriften, in die sie vertieft gewesen waren, um mich zu mustern. Immer musterten sie die anderen, um so mehr, wenn diese Hosen tragen.
«Was für ein Wetter! Nicht wahr?» merkte ich freundschaftlich an.
Sie musterten mich.
«Wer bekommt da nicht Lust, sich mit einem Kilo Pralinen, einem guten Tropfen und ein paar Beinen ins Bett zu verkriechen und bis morgen zu schäkern und neckische Spiele zu treiben, innen und außen schön warm?»
Als ich sah, wie sie mich musterten, mußte ich an die Durchsichtigkeit der giftigen Quallen denken.
«Mal sehn, ob ich eine Frau finde.»
Ich lächelte engelhaft und begab mich in den Regen.
Hurensöhne
«‹Hurensöhne› ist der zweite Auftritt von Carlos Hernândez. Deutlicher als in seinem ersten Roman ‹Der Tequila-Effekt› tritt hier an Stelle eines satirischen Untertons ein zynischer Sarkasmus und eine große Wut auf das real existierende Mexiko. Der Argentinier Rolo Diez, der während der Militärdiktatur inhaftiert wurde, lebt heute in Mexiko-City im Exil und ist von tiefem Misstrauen gegenüber Polizei und Politik geprägt. Er ähnelt in seiner Weitsicht dem großen französischen Schriftsteller Jean-Patrick Manchette, für dessen Helden die Welt ein Rattennest und als Ganzes nicht zu retten war. Auch Diez besticht durch eine konsequent pessimistische Betrachtung der mexikanischen Gesellschaft. Diez verknüpft dazu eine fiktionale Kriminalgeschichte mit einer Beschreibung der realen politischen Situation. Er beschreibt Mexiko als ein Moloch, In dem seine Bewohner um das nackte Überleben kämpfen. [...]
Rolo Dez hat hier seine eigene, unverwechselbare Stimme gefunden. Er erzählt seine Geschichte sehr filmisch, mit knappen Beschreibungen, knappen Dialogen und mit einem trockenen Wortwitz, manchmal mit einer grotesken, morbiden Situationskomik. Er erzählt nicht nur aus der Ich-Perspektive, sondern er geht einen Schritt weiter: er beschreibt wie Carlos Hernândez die Kriminalgeschichte subjektiv erlebt. Mit dieser Technik gelingt Diez eine besonders eindringliche Darstellung seines Sujets, eine beeindruckende Imagination. Zugleich verwendet er das Stilmittel der ironischen Brechung seines Protagonisten, indem er emotionale Innenwelt und reale Handlung in der Außenwelt gegenüberstellt. [...]
Rolo Diez hat mit ‹Hurensöhne› einen beindruckenden Noir-Roman geschaffen, dem man viele, viele Leser wünscht.»
www.krimizeit.de