Diana Kemp arbeitet für das Magazin «Lux». Ihr Kollege Bambridge hat gerade vom Shootingstar der Londoner Filmszene, Jackson, ein Interview bekommen. Gleich danach wird Jackson bestialisch ermordet. Ist auf den Tonbändern etwas verborgen, das zu dem Mörder führt? Inzwischen hat Diana beim Londoner Krimi-Festival den bizarren Autor Simon Everill getroffen, der ihr ein Exklusivinterview geben will. Und während die sexuellen Spannungen steigen, läuft noch immer ein Mörder frei herum...
Print - Version
(Ihre Bestellung wird ausgeführt durch die Germinal Medienhandlung GmbH.)
Die Ahnungslose
Der Mond lag in der Gosse...
Spiegelte sich im Himmel.
Und warf sein kränklichblasses Licht durch einen dünnen, schmutzigen Wolkenfetzen über den dunklen Teil der Straße. Die Nachtschwärmer des heutigen Abends, selbst die Beschwipstesten und Hartnäckigsten unter ihnen, selbst das menschliche Treibgut, das keinen Türeingang sein Heim nennen konnte, hatten diese Gegend der Stadt schon längst verlassen. Alles, was in der gewundenen Kurve von Agar Grove blieb, waren Abfälle: weggeworfene Fastfood-Verpackungen, zerknüllte Zigarettenschachteln, Papiermüll, der über die einsame Straße flatterte und hüpfte, vom Wind umhergestoßen.
Und dann noch etwas.
Um die Ecke näherten sich Schritte, flottes Tempo, bestimmt. Begleitet von einem leisen Pfeifen, ebenfalls bestimmt, einem sich wiederholenden kleinen Refrain, den man aber nicht wirklich als Melodie bezeichnen konnte. Die hochgewachsene, gebeugte Gestalt in dem schwarzen Crombie-Mantel war sich eigentlich nicht bewußt, daß sie diese Töne von sich gab; sie war mit ihren Gedanken weit weg, ganz woanders. Der Mann war sich der Plastiktüten bewußt, die er sich um die Hände gewickelt hatte, damit kein letzter Rest von Blut an die Innentaschen seines Mantels geriet. Er hatte sie hastig übergestreift, und vielleicht war er übervorsichtig gewesen, aber in dem Moment war es ihm sinnvoll erschienen. Was hatte noch gleich darauf gestanden? Täglich die frischsten Lebensmittel? Frischer gibt’s sie nirgends? Heute ein frisches Stück Fleisch? Ein Stück vom Schwein allererster Güte?
Ein nervöses Kichern entfuhr ihm wie ein Niesen. Seine Gedanken entgleisten erneut.
Nein, dieser Stadtteil war gut und schön. Bahnüberführungen und die leere Wasserfläche des Grand Union Canal, die stillgelegte York Way U-Bahnstation und die niedrigen Spelunken, alle mit Brettern vernagelt und leerstehend. Ein Industriegebiet zu seiner Rechten und dahinter die riesigen, stählernen Gaswerke, düster vor dem schwefelfarbenen Himmel, die leerstehenden sichelförmig angeordneten Bahnhäuser, deren Sanierung nie jemand in Angriff genommen hat, die erhabenen gotischen Turmspitzen von St. Pancreas wie ein unheimliches Märchenschloß und die Bahnschienen, auf denen die Züge in Richtung Norden davonrumpelten.
Hinter ihm lag Camden: eine Partystadt, ein Ort, an dem man zwischen den schnell Betrunkenen aller Altersklassen leicht anonym bleiben konnte. Er wußte Camden zu schätzen. Bei aller strahlenden Beleuchtung und allen Unterhaltungsangeboten, bei überquellenden Pubs voller ausgelassener, lauter Bands, dem Markt und der Kolonie von Saufbrüdern und Tramps hatte es trotzdem seine verborgenen Stellen. Schäbige Buden, die von den Markthändlern benutzt wurden, Brückenbögen unter der Eisenbahnbrücke, die auch als Räume für Theater- und Musikproben und behelfsmäßige Kneipen dienten, Stätten, oft nur mit Brettern vernagelt, in die sich leicht einbrechen ließ: wenn man nur ein wenig herumschnüffelte, konnte man sie finden. Unter den ratternden Lokomotiven, die ununterbrochen Pendler da und dorthin karrten, hinaus aus dem orangefarbenen Schein der Straßenlaternen.
Aber auf der anderen Seite, der Seite, die er jetzt ansteuern mußte, befand sich King’s Cross. Er haßte King’s Cross. Es war Sodom. Die Hölle auf Erden. Hier hatte sich ein Tor geöffnet, das die Kranken und Verderbten ausspuckte, die Huren und Zuhälter und den Junkie-Abschaum, die sich lauthals ihren Weg hinaus auf die vor Schmutz starrenden Straßen erkämpften, sich zitternd und schwitzend ihren Weg durch den grellen Strich gegenüber der U-Bahn Station und die krebserzeugenden Straßenschlünde darum herum bahnten. Er konnte den faulen Gestank riechen, als er die lange, einsame Wegstrecke des York Way im Zeitlupentempo hinabging.
Nicht mehr besänftigt durch die Nähe des Wassers, rasten Bilder im schnellen Vorlauf durch seinen Kopf. Ohne, daß er es merkte, wurde sein Pfeifen schneller, schlugen seine Füße härter auf den Asphalt.
Große rote Bluttropfen.
Eine verdammte Blutfontäne.
Auseinanderfallendes Fleisch, das dem spitzen Lächeln des Stahls nachgibt, der ein Lächeln in das weiße Fleisch meißelt. Aufklappendes Fleisch – so mühelos –, zuckend, butterweich, innen ganz gelb und rot.
Schreie, durch Streifen von Klebeband zurückgehalten: eine gurgelnde, röchelnde Kakophonie.
Die ihn an sterbende Schweine erinnerte.
Und die herrlich gebogene Klinge aus silberfarbenem Stahl.
Die jetzt auf dem Grund des Grand Union Canals ruhte.
Wo eine Menge Geheimnisse begraben lagen, unter einem kränklichblassen, gelben Mond.
Der vorbeifließende Verkehr übertönte das Geräusch seiner Füße, tauchte die magere Gestalt mit den runden Schultern sporadisch in das Licht vorbeigleitender Scheinwerfer. Nur ein weiteres Stück namenloses menschliches Treibgut, allein in der Londoner Nacht, das sich am Rand der Hauptstraße durch die verlassenen Straßen von vier Uhr morgens schlängelte. Tiefer, tiefer, tiefer hinein nach Sodom, in den roten, grünen, gelben Lichtern verschwimmend, in dem Durcheinander von Autos und Fußgängern, ging er in der Menge unter.
Die Ahnungslose
«Cathi Unsworths «Die Ahnungslose» ist das beste Romandebüt seit langem. Es ist «very London», sehr hip, aber auf eine völlig ungezwungene Art.»
THE TIMES
«Die Ahnungslose» ist der Debütroman der Journalistin Cathi Unsworth, die u.a. einige Jahre für das renommierte Musikmagazin «Melody Maker» arbeitete. Der Roman landete auf Anhieb in den englischen Bestsellerlisten auf einem Spitzenplatz und wird von Schriftstellerkollegen hoch gelobt. […]
«Die Ahnungslose» ist ein atmosphärisch-dichter Thriller, ein beeindruckender Debütroman, der von einer großen Reife und dem großen Talent der jungen Autorin zeugt. Cathi Unsworth hat Biographisches und ihre großen Kenntnisse des alternativen Londoner Lebens mit ihrer Begeisterung für Noir-Romane verknüpft. Obwohl dieser Roman das Serienmörder-Motiv enthält, entspricht er so gar nicht den Konventionen und Klischees. Ihre Protagonistin Diana Kemp wird schicksalhaft in die Kreise eines Serienmörders hineingezogen. Aber nicht die Taten des Serienmörders und seine Entlarvung stehen im Mittelpunkt des Romans, sondern die Umstände, die den Serienmörder zu diesem machten. Früh ahnt man die Zusammenhänge und verfolgt doch fasziniert, wie die beiden Lebenslinien zwangsläufig aufeinander prallen. Cathi Unsworth verweigert sich auch einem klischeehaften Happyend: Diana Kemp überlebt, aber die Ereignisse haben tiefe Spuren in Ihrer Psyche hinterlassen. Sie ist eine andere, und nichts und niemand kann ihr dabei helfen, wieder die zu werden, die sie vor ihrer Begegnung mit dem Serienmörder war. Diese realistische Erzählweise, ihre Verweigerung eines simplen Happy Ends und die große erzählerische Intensität, die uns mitnimmt, das Schicksal der Diana Kemp mitzuerleben und mitzufühlen, zeigen bereits die große Klasse der jungen Autorin. Empfehlenswert!»
Claus Kerkhoff / KRIMIZEIT